Lust am Scheitern
BLAUZONE
Beat Fäh [www.faeh.de]
Theater Hora [www.hora.ch]
Michael Elber
 
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Interview [Alexandra Stoll/Chris Weinheimer]

über das Projekt "Die Lust am Scheitern" von Theater Hora und BLAUZONE, erschienen im Jubiläumsband des Theater Hora "Ich will Millonrein werden".

Chris, ihr spielt mit dem Theater HORA zusammen das Stück "Die Lust am Scheitern". Wie kam es dazu?

Das ganze Projekt ist eine musiktheatralische Improvisation ohne irgendwelche Absprachen. Es gibt weder ein Bühnenbild im klassischen Sinne, noch gibt es eine fertige Musik oder Figuren. Alle Akteure sitzen am Anfang um die Spielfläche herum, dann geht das Spiellicht an und jemand macht etwas. Das Prinzip ist, dass es keine -Charaktere» gibt, die dargestellt werden, sondern dass alle freie Spieler sind. Entstanden ist diese Produktion dadurch, das Michael Elber, der Chef vom Theater HORA uns gesehen hat, als wir in Zürich "Blauzone" gespielt haben. Das war eine Art Vorgänger von "Lust am Scheitern", auch eine reine Improvisation, die wir mit dem Schweizer Regisseur Beat Fäh zusammen entwickelt haben. Da hat uns Michael gesehen und gesagt, er will, dass wir das mit seinen Leuten zusammen machen. Das hat dann ein bisschen gedauert, bis er alles zusammen hatte und bis auch Geld da war. Die erste Phase der Zusammenarbeit begann dann vor 2 Jahren. Wir haben geprobt, insgesamt rund 2 Monate, dann ein Vorstellungsblock am Escher-Wyssplatz, und seitdem läuft das in unregelmäßigen Abständen so.

Hast du vorher schon Projekte mit Behinderten, gemacht?

Nein, der Kontakt mit HORA war auf künstlerischer Ebene die erste Zusammenarbeit mit Behinderten.

Was war denn für dich persönlich der Reiz an diesem Projekt?

Zu dem Zeitpunkt habe ich mich sehr für die bildende Kunst von geistig Behinderten interessiert. Mich hat die Anfrage von Michael auch insofern an einem guten Punkt erwischt, da Beat und ich gerade vorher "Marie/Woyzeck" gemacht hatten - nach dem Büchner Fragment und da dreht es sich ja auch um jemand, der so am Rande der Normalität lebt. Insofern war ich gerade auch so richtig in diesem ganzen Stoff drin.

Gibt es denn für euch eine klare Trennung zwischen den Musikern, Schauspielern oder spielen die Leute vom HORA auch Musik?

Michael hat uns gleich zu Anfang gefragt: " Interessiert euch das, mit denen Musik zu machen?" und wir haben gesagt: "Na klar, das ist sozusagen unser Hauptinteresse!". So haben wir dann auch viel Musik geprobt, kleine Kapellen gebildet, uns gegenseitig dirigiert usw. Schließlich wurde dann allen HORA-Leuten je ein Instrument zugesprochen, damit nicht das Chaos ausbricht, aber in der Vorstellung bilden sich dann alle möglichen Kombinationen.

Geschieht das denn auch spontan?

Ja, das ganze Projekt ist ja eine Improvisation; es gibt eben wirklich keinen Plan oder sowas.

Was müsst ihr dann proben, wenn alles spontan ist?

Sehr gute Frage, ja, das Schwierige ist zu proben. Man versucht, etwas zu lernen, was man danach wieder vergessen muss. Die meisten Sachen, an denen wir gearbeitet haben sind Reaktionsweisen. Es gibt Dinge, die in der Improvisation tendenziell schlecht sind, wobei man da sehr vorsichtig sein muss. Andere sind tendenziell gut. Schlecht ist es beispielsweise, wenn du neun Leute hast und immer nur einer auf der Bühne ist. Tendenziell schlecht ist es auch, wenn du alle Ideen in den ersten fünf Minuten verbrauchst und dann fünfundfünfzig Minuten lang Koma ist, wobei das auch reizvoll sein kann...

Speziell. (Lacht)

Ja sehr speziell. Und interessant. (Lacht) Wir haben beispielsweise lange Zeit damit verbracht, den Peter Keller, einer der HORA-Kollegen, dazu zu animieren, auch mal von der Bühne abzugehen. Das war eine Phase, wo wir mit ihm Deals gemacht haben, gesagt haben: "Okay, du hast drei Auftritte", und er hat natürlich in den ersten zwei Minuten all seine drei Auftritte gehabt, dann aber ein neues Zählsystem entwickelt. Er hat mir immer seine Finger gezeigt, und als der Ringfinger für die Vier dran war, hat er einfach den Daumen weggenommen und so blieben es immer drei Finger. So ist er dann durchmarschiert durch die zehn Auftritte. Die Begeisterung war unten natürlich groß, Michael und Beat haben sich köstlich amüsiert. So haben wir also gearbeitet. Man könnte sagen, systematisch unsystematisch.

Wo siehst du den konkreten Unterschied zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen, allgemein und in der Zusammenarbeit?

Der allgemeine Unterschied zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen ist ja relativ klar. Behinderte sind Menschen, die nicht selbständig leben können, d.h. die Hilfe brauchen. Wenn man es genau nimmt, braucht natürlich jeder Mensch Hilfe. Ich brauch den Bäcker, der mir hilft, meine Brötchen zu kriegen und dafür bezahle ich ihn. Nur, in der Gesellschaft, in der wir leben gibt es eine Grenze, von der an jemand von Amtes wegen hilfebedürftig ist. Das ist die allgemeine Ebene.

Und auf der anderen, der künstlerischen Ebene?

Da fällt es mir sehr schwer, das zu definieren. Der Carl Ludwig hat in einem Interview im Fernsehen auf die Frage "Was können die besser als ihr" folgendes geantwortet: "Direkt agieren!". Das ist ein gutes Stichwort. Nämlich, dass man als sogenannt Normaler durch diese ganzen abstrakten Gedanken, die man sich macht - warum tu ich das jetzt, ist es gut, genau das genau jetzt zu machen etc. - oft im Agieren behindert wird. Diese ganzen Geschichten sind bei den sogenannt Behinderten viel direkter. Die haben ein sehr direktes Verhältnis zu ihren Emotionen und Bedürfnissen und das ist ein Unterschied, der im Grunde für uns sehr positiv ist, weil wir uns da Sachen abgucken können. Als ich beispielsweise drei Stunden vor der Premiere ins Escherwyss kam, saß da Frankie auf dem Sofa im Foyer und ich habe ihn gefragt "Frankie was machst du hier, drei Stunden vor der Vorstellung? " Er guckt mich strahlend an und sagt: "Ich freue mich auf die Premiere". Da kann sich wirklich fast jeder Schauspieler eine Scheibe davon abschneiden, dass da einer in diesem ganzen Vorpremierenstress im Theater sitzt und sich sagt: Heute Abend geht's los und ich freu mich drauf! So geht der dann auch auf die Bühne. Das ist vielleicht der Hauptunterschied in der künstlerischen Arbeit.

Und gibt es auch einen in der Wahrnehmung? Der Musik zum Beispiel?

Spielst du für Behinderte anders als für «Normale»?

Wenn ich es mal ganz zynisch sage, sind für die meisten Musiker die Nichtmusiker behindert in ihrer Möglichkeit, Musik zu erfassen. Man würde es vielleicht besser als benachteiligt oder eingeschränkt bezeichnen, aber es gibt eben diesen Kompetenzunterschied. Derjenige, der etwas vormacht, tut das eben aus der Position dessen, der weiß, was kommen wird. So kann er den Zuschauer oder Zuhörer überraschen und verblüffen, was ein ganz wichtiges Element jeglicher Kunst ist. Dieser Kompetenzunterschied ist also ein maßgebender Teil des Spiels. Aber die Gabe, Musik zu hören und zu genießen ist sicher gleichmäßig chaotisch verteilt unter den Menschen. Es gibt natürlich einen Unterschied in den musikalischen Vorlieben. Der ist aber zwischen den «Behinderten» und den «Normalen» nicht größer als zwischen den Individuen.

Wie geht ihr mit diesen Geschmacksunterschieden um?

Wir haben in dieser Produktion auch eine gehörige Zeit verbracht, um herauszufinden, wer auf was steht. Dass eben Helen auf die Bühne rennt und mit ausgebreiteten Armen Kreise ziehend «Memories» aus «Cats» singt, ist für uns natürlich musikalisch eine Herausforderung. Ich muss das halt in irgendeiner Form aufgreifen und damit umgehen lernen. Das ist auch noch eine Sache, an der man arbeiten kann: Wenn du nix mit dem anfangen kannst, was auf der Bühne passiert, dann bleib unten. Wenn die Vorstellung läuft und es passiert etwas, was mir nicht gefällt, gehe ich nicht auf die Bühne und kommentiere das. Das haben wir eine Zeit lang auch gemacht, aber dabei entstehen nur sehr flache und private Kämpfe auf der Bühne, die keine theatralische Höhe haben. Das ist vielleicht die einzige Regel: Bring die anderen nicht schlecht drauf.

Wie stellt sich für dich der Umgang mit den behinderten Menschen dar?

Und wie gehen sie mit dir um?

Das hat sich - wie auch bei Begegnungen mit Nichtbehinderten - stark geändert. Man war so ein bisschen vorsichtig am Anfang, hat sich kennen gelernt und jetzt sind mir das sehr liebe und werte Kollegen. Ich kann das nicht anders sagen. Ich weiß um die Macken der Einzelnen ein bisschen was und die wissen ein bisschen, was uns auf die Nerven geht und was wir besonders mögen. Man respektiert sich, man mag sich und versucht eigentlich ständig, sich weiter anzunähern. Eigentlich liegt kein Unterschied zum Kennenlernen von anderen Leuten vor. Abgesehen davon ist das natürlich ein sehr privilegierter Freiraum, in dem wir uns da begegnen. Man kann sich jenseits von dem alltäglichen Stress, den wir ja alle haben, aufeinander konzentrieren, sich immer wieder neu herausfordern und Neues zusammen ausprobieren.

Gibt es gar keine Unterschiede in den Beziehungen?

Doch, es gibt Grenzen, die schwer zu überschreiten sind und es gibt auch Grenzen, die man nicht überschreiten darf oder kann. Das sind die Grenzen, wo es von Seiten der Nichtbehinderten -eine höhere Lebenskompetenz gibt.

Hast du denn kein Problem damit, dich höher zu stellen und über andere zu entscheiden?

Da sind wir bei einer Sache, die auch im Leben ein zentraler Punkt ist. Angenommen du bekommst ein Kind: Du musst diesem Kind bis zu einem bestimmten Punkt sagen, was es tun soll und was es lassen soll. Du hast natürlich bei den geistig Behinderten teilweise Menschen, die auch Kinder sind. Du hast also jemanden, dem etwas erhalten geblieben ist, was man sonst wirklich nur bei Kindern findet. Ein ganz direkter und spontaner Umgang mit Emotionen, sich einfach freuen können, das sind Dinge, die man irgendwann auch deswegen etwas verliert, weil man anfangen muss, anderen Leuten zu sagen, was sie zu tun haben. Das ist das, was man wohl «erwachsen werden» nennt, was Verantwortung übernehmen bedeutet. Die Verantwortungslosigkeit ist im künstlerischen Bereich etwas Tolles, nur: Außerhalb der Vorstellung muss jemand Verantwortung übernehmen. Diese ganzen Routinejobs, die man hat, Hotelbuchung, Gastspielorganisation usw. Das ist das, was uns unterscheidet.

Was geben dir die behinderten Menschen als «Gegenleistung» für deine Musik zurück?

Der Begriff «Leistung» ist hier sicher ein ganz problematischer. Was man als Musiker oder als Schauspieler von seinen Kollegen erwartet, ist Aufmerksamkeit und Respekt. Das braucht man auch vom Publikum. Was man zusätzlich vom Mitspieler braucht, ist Unterstützung und da sind wir alle gegenseitig auf einander angewiesen. Wenn das nicht stattfindet, dann entsteht keine Geschichte zwischen den Leuten auf der Bühne, keine theatralische Energie. Die Leute auf der Bühne müssen sich gegenseitig Bedeutung geben. Wir haben in den Proben oft an dieser Haltung gearbeitet, indem einer eine Sache gemacht hat und ein anderer nur zugeschaut hat. Durch eine solche Konstellation entsteht beim Zuschauer sofort eine Geschichte: Was haben die beiden miteinander zu tun, tut der Erste das für oder gegen den Zweiten? Marcel hat sich in Bern auf die Bühne gestellt und einen Stuhl hin- und herbewegt und gesagt: «Ich habe ein Problem». Ich habe lange überlegt was man damit machen kann. Dann bin ich auf die Bühne gegangen und habe gesagt: «Dein Problem möchte ich haben». Wie eine musikalische Antwort war das, aber Michael hat gesagt, dass es eine ganz spezielle Farbe bekommen hat; eben dadurch, dass die Szene von einem «Normalen» und einem «Behinderten» handelte. Wenn ich auf die Bühne gegangen wäre und gefragt hätte: «Wen interessiert denn dein Problem?», dann wäre durch diese eher ablehnende Haltung die Entwicklung der Szene sicherlich viel schwieriger geworden. Wichtig ist also eben dieser positive Umgang mit dem, was man vorfindet. Pathetisch gesagt, ist das natürlich auch immer ein Lebensmodell, was man auf einer Bühne macht. Die Erkenntnis dieses konstruktiven Umgangs mit dem Anderen und seinen Ideen ist für mich sicher eines der wichtigsten Ergebnisse aus dieser Arbeit.

Glaubst du das würde jedem gut tun eine solche Erfahrung?

Wenn es möglich wäre, so etwas an Schulen zu machen und die Kinder auf diese Art und Weise an dieses «Problem» namens Behinderung heranzuführen, glaube ich, dass das ein wahnsinniger Gewinn für die ganze Gesellschaft wäre. Es würde Schranken abbauen, aber auch die ganze Energie und Kreativität dieser Welt der Behinderten könnte erfahren und genutzt werden. Da liegt ein Potential brach, das oft in sinnlosen und unnötigen Arbeiten erstickt wird. Eines unserer Probleme ist ja, dass wir zwar eine Welt teilen, aber nicht unbedingt die Vorstellungen darüber. Es ist eine der wirklich wichtigen und interessanten Aufgaben, den Versuch zu machen, die Welten anderer Leute zu verstehen und bis zu einem gewissen Grade zu teilen. Psychische Krankheit oder auch geistige Behinderung kann man ja betrachten als eine Weitsicht, die eben nur von sehr wenigen geteilt wird. Dadurch entsteht auch oft die Einsamkeit dieser Menschen. Aus dieser Einsamkeit heraus führt nur die Mitteilung dieser Sicht und die kann auch für die Mehrheit der Andersdenkenden eine wichtige sein. Realität funktioniert also so, dass jeder seine Sicht der Dinge quasi in den Ring wirft und man dann schaut, was dabei herauskommt. Das ist eben auch das Prinzip dieses Projekts. Wir sitzen um die Bühne herum und jemand macht einen Vorschlag. So beginnt es. Und es geht nur, wenn wir an den Beginn glauben, wenn wir an die erste Idee glauben, dann spinnt sich der Faden weiter. Wenn wir das nicht schaffen, so kann auch das Publikum nicht daran glauben und insofern seinen eigenen Teil, seine Sicht auch nicht in den Ring werfen.

Einerseits muss man sich also als Individuum zurückstellen, andererseits auch etwas sehr Eigenes geben?

Ja, es geht um Autonomie, um Selbstbewusstsein und um Respekt. Also nicht um Unterwerfung oder Dominanz, sondern um eine Begegnung auf gleicher Augenhöhe.

Du hast den Begriff «Lebensmodell» verwendet. Ist «Die Lust am Scheitern» für dich eines?

Für mich gilt das immer, wenn's um die Kunst geht. Sie ist Kommunikation, Auseinandersetzung zwischen autonomen Individuen. Du musst deine Ideen veröffentlichen, du musst sie ausstellen, damit andere sie anschauen können und versuchen können, etwas damit zu machen. Der Mut und der Wille diesen Öffentlichkeitsakt zu begehen, gehört dazu. Dann erst entsteht diese Kettenreaktion. So ein Projekt wie dieses ist also eine öffentlich ausgestellte Art und Weise, miteinander umzugehen. Und es provoziert meistens, gemäss unserer Erfahrung, sehr klare Antipathie oder Sympathie. Einer der Kollegen hier am Theater hat gesagt, man muss -Nit druus cho, ma muess dri cho-, also nicht draus schlau werden, sondern reinkommen.

Es liegt also auch stark am einzelnen Zuschauer, wie viel Spaß er hat?

Wie bei aller Kunst, ja, aber hier geht’s eben zusätzlich noch um die immer noch existierenden Vorurteile und Ängste gegenüber Behinderung. Man muss viele Leute wirklich immer noch öffnen für eine solche Arbeit. Das merkt man auch noch immer im Alltag, an Blickkontakten, Gesprächen und so weiter, dass es da immer noch Schranken gibt.

Was könnte die Gesellschaft im Umgang mit Behinderten verbessern?

Eine Menge. Das fängt an mit ganz pragmatischen Dingen: Zugänglichkeit aller öffentlichen Gebäude und Einrichtungen auch für Rollstuhlfahrer; Gleichberechtigung im Berufsleben; Recht auf ein selbstbestimmtes Leben mit persönlichen und auch intimen Beziehungen und dem Respektiertwerden dabei. Das ist das, was die Gesellschaft den -Behinderten- schuldet. Sie kann aber auch etwas von ihnen kriegen dafür: Den Zugang zu dieser Welt, die da ungenutzt existiert. Da müssten die Bilanzen mal ausgeglichen werden.

Hast du sowas wie eine «message» an die Welt?

Das ist ja wohl klar: PEACE!

Sonst noch was?

Nein, das wär doch schon Klasse!